Psychologe
St. Gallen

 

Weltbilder

Nicht alle Schwierigkeiten, denen wir im Leben begegnen, haben etwas mit uns persönlich zu tun (vgl. Lebenswelten). Vieles liegt auch den Bedingungen, denen wir in unserer Lebenswelt begegnen. Und dahinter stecken größere Zusammenhänge. Deshalb gebe ich Ihnen hier Hinweise auf Bücher, die auf den ersten Blick nicht psychologische Themen zum Inhalt haben. Schaut man hingegen länger und genauer hin, wird klar, dass die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme, die uns beschäftigen, sehr viel damit zu tun haben, was kollektiv in unseren Köpfen vorgeht.

Entscheidend ist auch, wie weit das Bild, das wir uns von der Welt machen, in einem realistischen Bezug zu unserer eigenen Situation steht.

Krieg und Frieden

Dass in Europa seit dem 24. Februar 2022 ein heftiger Krieg tobt, beschäftigt mich zutiefst. Damit bin ich nicht allein. Die aktuelle sicherheitspolitische Lage bewegt wohl die meisten Europäerinnen und Europäer.

Um mich mit der Situation vertieft auseinanderzusetzen, habe ich direkt nacheinander zwei aktuelle schwedische Bücher gelesen:

  • Wilhelm Agrell: En tid för krig. Europas väg mot storkonflikt 1939 och 2022. Historiska media. (Eine Zeit für Krieg. Europas Wege zu Großkonflikten 1939 und 2022. – Das Buch ist bisher ausschließlich in Schwedisch verfügbar.)
  • Lars Ingelstam: Fredspolitiska perspektiv. Kristna Fredsrörelsen. (Friedenspolitische Perspektiven. – Das Buch ist bisher ausschließlich in Schwedisch verfügbar.)

Die beiden Bücher beleuchten unterschiedliche Aspekte des Geschehens, die militärischen und die zivilen. Und sie diskutieren sowohl die Kriegsprävention als auch den Umgang mit Krieg, wenn er im Gang ist.

Agrell zeigt die erschreckenden Parallelen zwischen dem Weg zum zweiten Weltkrieg und dem Weg zum Krieg in der Ukraine, die Parallelen zwischen Hitler und Putin und die Parallelen im Umgang der anderen Länder mit dem Geschehen.

Ingelstam betont, dass Verteidigungspolitik nicht nur Militärpolitik sein darf, sondern vor allem vorbeugende zivile Friedenspolitik sein muss. Wie groß die Gewichte der beiden Säulen sind, zeigt sich auch in den jeweils aufgewendeten Geldbeträgen. Die Diagnose ist klar: In die militärischen Mittel wird sehr viel mehr investiert als in die zivilen. Sowohl ökonomisch als auch aus der Perspektive menschlichen Leids ist dies fragwürdig, denn Kriegsvermeidung ist sehr viel billiger als Kriegsführung. Und Ingelstam betont, dass die Menschen in Russland nicht unsere Feinde sind. Wenn der Krieg vorbei ist, wird es darum gehen, freundschaftliche Verbindungen zu knüpfen.

Schwedische Originalausgaben

Wilhelm Agrell: En tid för krig. Europas väg mot storkonflikt 1939 och 2022. Historiska media.

Lars Ingelstam: Fredspolitiska perspektiv. Kristna Fredsrörelsen.

Wirtschaft neu denken

Die Ökonomin Kate Raworth war erschüttert zu sehen, wie uns die Wirtschaftswissenschaften an den Rand des Abgrundes geführt haben – wirtschaftlich und ökologisch. Deren Modelle, wie Wirtschaft funktioniert, prägen das Denken all jener, welche die Geschicke unserer Gesellschaft lenken. Diese Modelle lassen zentrale Grundlagen wirtschaftlichen Funktionierens außer acht. In den prägenden Bildern und Konzepten vom Bruttosozialprodukt, von Angebot und Nachfrage sowie vom ökonomisch egoistischen Menschen kommen die Fundamente nicht vor, die unser ganzes Wirtschaften ermöglichen: insbesondere weder das Ökosystem Erde noch die zu einem überproportional von Frauen geleistete unbezahlte Haushalts- und Familienarbeit.

Fatal ist die seit Jahrzehnten vorherrschende Idee, Wirtschaft brauche ewiges Wachstum. Unbegrenztes Wachstum in einem endlichen Lebensraum ist der sichere Tod. Langfristig Bestand hat nur ein Gleichgewichtszustand.

Kate Raworth hat nach neuen Bildern gesucht, um zu illustrieren, wie Wirtschaft funktioniert. Sie zeichnet einen Doughnut-Ring. Dessen innere Grenze repräsentiert als notwendiges Minimum die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse. Die äußere Grenze stellt als Maximum die Grenzen des Ökosystems Erde dar. Zwischen den beiden Grenzen gibt es ein menschenwürdiges Leben für alle.

Die existenziellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in einer Welt, in der wir mehrere Grenzen unserer Lebensgrundlagen überschritten haben, sind nur zu bewältigen, wenn wir Wirtschaft radikal neu denken und rasch genug entsprechend handeln.

Deutsche Ausgabe

Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Hanser.

Englische Originalausgabe

Kate Raworth: Doughnut Economics. Seven ways to think like a 21st-century economist. Penguin.

Ein Leben auf unserem Planeten

Der 1926 geborene Tierfilmer, Naturforscher und Schriftsteller David Attenborough beschreibt im ersten Teil seines Buchs, wie er im Laufe seines langen Lebens Zeuge geworden ist von den radikalen Veränderungen auf unserem Planeten. Je näher seine Beschreibung der Gegenwart kommt, desto ungemütlicher wird sie.

Im zweiten Teil beschreibt Attenborough, welche Aussichten wir haben, wenn die Entwicklung so weitergeht, wie es die Vergangenheit erwarten lässt. Was wir auf dieser Basis zu erwarten haben, ist düster – klar gesagt katastrophal.

Doch David Attenborough zeigt auf, dass wir es in der Hand haben, die Entwicklung zu wenden. Er skizziert eindrücklich und faktenbasiert, was wir tun können und was für eine Zukunft möglich ist, eine Zukunft, bei der auf unserem Planeten zu leben, eine lebenswerte Perspektive beinhaltet.

Ich finde es zentral, dass wir David Attenboroughs Analyse ernst nehmen und alles tun, was wir können, damit die Erde dem Leben in seiner Vielfalt eine Zukunft bietet.

Deutsche Ausgabe

David Attenborough: Ein Leben auf unserem Planeten. Die Zukunftsvision des berühmtesten Naturfilmers der Welt. Blessing.

Englische Originalausgabe

David Attenborough: A Life on Our Planet. My witness statement and a vision for the future. Witness Books.

Die Grenzen der Zivilisation

Das Buch von Johan Rockström, einem der bedeutendsten Erdwissenschaftler unserer Zeit, und Owen Gaffney beginnt mit dem Vorwort einer 18-jährigen. Sie hat in der Sache Wichtiges zu sagen. Sie heißt Greta Thunberg.

Gaffney und Rockström zeigen, wie es um das Ökosystem des Planeten Erde steht, von dem unser Leben und jenes unserer Nachkommen abhängt. Zu Beginn blicken die Autoren zurück auf die früheren Zustände unseres Planeten: als es noch kein Leben gab, als es einzelliges Leben gab, als Photosynthese begann und damit der Aufbau einer Atmosphäre mit Sauerstoff und schließlich die ganze Entwicklung hin zu höheren Lebensformen. Die Autoren zeigen auch, was dies für die Temperatur auf der Erde bedeutete. Es gab Zeiten, in denen es viel heißer war als heute. Und es gab Zeiten, in denen die Erde ein Schneeball war. Die Ursprünge des Menschen reichen zurück in eine Zeit, in der das Klima der Erde Sprünge machte. Seit es Menschen gibt, war es auf der Erde phasenweise kälter, aber auch wärmer als heute. Doch die damaligen Bedingungen reichten nur für eine auf Wanderschaft befindliche Weltbevölkerung von wenigen Millionen Menschen. Vor etwas über 10 000 Jahren erreichte das Klima eine Phase unglaublicher Stabilität. Diese Stabilität war die Voraussetzung, damit Menschen sesshaft werden und mit Ackerbau beginnen konnten. Zivilisation wurde möglich!

Gaffney und Rockström zeigen, dass das Ökosystem der Erde in Bezug auf mehrere Variablen dabei ist, seine Grenzen zu überschreiten und in den Bereich von Kipppunkten kommt. Die Zusammenhänge sind nicht linear, so dass beispielsweise die Zunahme des Kohlendioxid-Gehalts der Atmosphäre zu einer proportionalen Zunahme der globalen Temperatur führen würde. Vielmehr gibt es einen Punkt, an dem die Temperaturzunahme weiter läuft, selbst wenn der Kohlendioxid-Ausstoß vollständig gestoppt wird. So besteht heute ein wissenschaftlicher Konsens, dass bei 1,5 Grad Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau der Abstand von einem solchen Kipppunkt klein wird. Wenn man 1,5 Meter vor dem Abgrund steht, macht es einen prinzipiellen Unterschied, ob man 1 Meter vorwärts geht und stehen bleibt oder ob man es zulässt, 2 Meter vorwärts zu gehen. Wenn man über den Abgrund hinaus geht, wird man fallen.

Das Überschreiten der Grenze ist nicht das Ende der Menschheit, aber das Ende der Zivilisation. Damit geht die Grundlage dafür verloren, dass die heute rund acht Milliarden Menschen eine Zukunft haben. Nur ein Bruchteil davon könnte in brutalen Kämpfen überleben und auch dies nicht mehr im Rahmen einer Zivilisation nach heutiger Vorstellung.

Planetary Boundaries zeigt, dass wir rasch handeln müssen. Innerhalb der nächsten zehn Jahre müssen wir den Kohlendioxid-Ausstoß halbieren und den Verlust natürlicher Ökosysteme stoppen, um die Resilienz der Erde wiederherzustellen. Bis im Jahr 2050 müssen wir auf netto Null sein. Planetary Boundaries zeigt aber auch, dass dies keine Utopie ist, vorausgesetzt wir wollen es. Greta Thunberg hat es in die Worte gefasst: When we humans really put our minds and resources into something we can achieve almost anything. Wieviel Unvorstellbares in unvorstellbar kurzer Zeit möglich ist, hat uns COVID-19 gelehrt. Die Menschheit war wiederholt erfolgreich, namentlich mit dem Wiederaufbau der Ozonschicht, dem Kampf gegen sauren Regen und dem Verbot oberirdischer Atombombentests.

Insofern ist Planetery Boundaries nicht nur ein dramatisches, sondern auch ein hoffnungsvolles Buch.

Englische Originalausgabe

Owen Gaffney and Johan Rockström: Breaking Boundaries. The science of our planet. DK.

Factfulness: Auf dem Boden der Tatsachen

Die Coronakrise hat zu einem abgrundtiefen Graben quer durch unsere Gesellschaft geführt. Sowohl in der Beurteilung der Bedeutung des Virus als auch in den Ansichten über das, was zu tun ist, stehen sich zwei Lager vehement gegenüber.

Beide Lager unterliegen einer Reihe von Instinkten, die Wirklichkeit verzerrt zu sehen. Der Schwede Hans Rosling, Professor für öffentliche Gesundheit, hat diese Instinkte eingängig dargestellt und für einen unaufgeregten Blick auf die Fakten gekämpft. Die Coronakrise hat er nicht mehr erlebt. Er ist 2017 gestorben. Hinterlassen hat er sein Buch Factfulness, das Bill Gates, der auf den beiden Seiten des Corona-Grabens völlig entgegengesetzt gesehen wird, als eines der wichtigsten Bücher bezeichnete, das er je gelesen habe. Ich finde, in diesem Punkt hat Bill Gates recht.

Hans Rosling würde mich aufgrund meiner Schilderung des Grabens sogleich ermahnen, ich sei dem Instinkt der Kluft verfallen. In Tat und Wahrheit ist unsere Gesellschaft nicht in zwei klar abgrenzbare Lager gespalten, sondern bezüglich mehrerer Dimensionen breit verteilt. So wird sowohl die Gefährlichkeit des Virus als auch die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen vielfältig beurteilt.

Roslings Buch regt dazu an, sich den Fakten auf eine differenziertere Art zu stellen. Dies gilt für jeden Aspekt der Welt. Mit Blick auf das Coronavirus bin ich überzeugt: Sowohl jene, die auf Panik vor dem Virus machen, als auch jene, die an Verschwörung glauben, haben sich verrannt.

Roslings Buch enthält viel mehr als Zahlen. Es ist reich an persönlichen Erlebnissen und von einem Humor geprägt, der mich motiviert hat, das Buch bis zum Ende zu lesen. Dort erzählt Hans Rosling, wie ihn die mutigen und besonnenen Worte einer Frau, die sich für den Boden der Tatsachen einsetzte, vor einem mit der Machete bewaffneten wütenden Mob retteten.

Deutsche Ausgabe

Hans Rosling mit Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein.

Schwedische Originalausgabe

Hans Rosling med Anna Rosling Rönnlund och Ola Rosling: Factfulness. Tio knep som hjälper dig att förstå världen. Natur & Kultur.

Wieso wir uns vor dem Falschen fürchten

Wie realistisch ist unsere Wahrnehmung davon, was in der Welt für uns gefährlich ist? Gerd Gigerenzer unterscheidet drei Bereiche, jenen der Gewissheit, jenen des Risikos und jenen der Ungewissheit. Wenn wir glauben, Gewissheit zu haben, obwohl wir uns im Bereich des Risikos befinden, unterliegen wir der Nullrisiko-Illusion. Wenn wir glauben, das Risiko zu kennen, obwohl wir uns im Bereich der Ungewissheit befinden, unterliegen wir der Illusion des Truthahns, der aufgrund der Erfahrung, jeden Tag gefüttert zu werden, das Risiko, geschlachtet zu werden, für immer kleiner hält.

Gigerenzer plädiert dafür, risikokompetent zu werden. So können wir vermeiden, was mit einer relevanten Wahrscheinlichkeit relevanten Schaden verursachen wird. Und wir können aufhören, uns mit gigantischem Aufwand Dinge vom Leib halten zu wollen, die uns aller Voraussicht nach nicht treffen werden.

Gigerenzer zeigt Strategien, um gute Entscheidungen zu treffen. Im Umgang mit zahlenmäßig bekannten Risiken fällt es Menschen leichter, Häufigkeiten richtig zu interpretieren als Wahrscheinlichkeiten.

Für den Umgang mit Ungewissheit plädiert er dafür, auf einfache Faustregeln zu setzen. Diese sind komplexen Modellen bei weitem überlegen. Gigerenzer behandelt grundlegende Lebensbereiche vom Umgang mit Geld, über die Partnerwahl bis zur Gesundheitsvorsorge.

Mit den folgenden Faustregeln zur Gesundheitsvorsorge erreichen wir weit mehr als mit teuren Tests und Therapien:

  1. Fange nicht an zu rauchen. Wenn du angefangen hast, höre damit auf.
  2. Halte ein normales Körpergewicht.
  3. Sei täglich körperlich aktiv.
  4. Vermeide Fast Food und Süßgetränke.
  5. Begrenze tierische Lebensmittel und esse vorwiegend pflanzliche Nahrung.
  6. Vermeide gesalzene Lebensmittel.
  7. Vermeide Nahrungsergänzungsmittel.
  8. Wenn Mütter ihre Kinder stillen, ist dies zum Wohle beider.
  9. Begrenze alkoholische Getränke.
  10. Begrenze die Strahlenbelastung, vor allem für Kinder.


Deutsche Ausgabe

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. btb.

Englische Originalausgabe

Gerd Gigerenzer: Risk Savvy. How to make good decisions. Penguin.

Klimawandel

Wie Menschen leben können, hängt in höchstem Maße von Umweltbedingungen ab, von gesellschaftlichen und ökologischen. Gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen ökologische und umgekehrt.

Joseph Romm erklärt, was heute zum Thema Klimawandel wissenschaftlicher Konsens ist. Er erläutert auch, wieso jedermann dies wissen sollte.

Die Fakten:

  • Es wird wärmer. Dass sich die Erde im Durchschnitt erwärmt, ist mittlerweile mit einer Sicherheit belegt, die dringenden Anlass gibt, sich mit dem, was sich abzeichnet, ernsthaft auseinanderzusetzen.
  • Es wird massiv wärmer. Die Vorhersagen der Klimamodelle haben sich als zu optimistisch erwiesen. Es wird schneller warm und es wird heißer als von den meisten Modellen prognostiziert, weil die Modelle wichtige Selbstverstärkungsmechanismen nicht berücksichtigen.
  • Die Erwärmung wird vom Menschen verursacht. Heute ist auch robust belegt, weshalb sich das Meer, die Erdoberfläche und die Atmosphäre erwärmen: Der Mensch hat den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits massiv erhöht und tut es weiterhin. Seit es Homo Sapiens gibt, gab es noch nie so viel Kohlendioxid in der Luft.
  • Die massive Erhöhung des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre verändert alle Lebensräume – auch das Meer. Das zusätzliche Kohlendioxid in der Luft wird in einem Maße vom Meer aufgenommen, durch welches es massiv saurer wird. Die Übersäuerung des Meers gefährdet einen Großteil des Lebens im Wasser und dadurch auch die Ernährung der Menschheit.

Kritiker und Zweifler, welche nicht wahrhaben wollen, was geschieht, weisen darauf hin, in der Erdgeschichte sei es schon heißer gewesen und habe es schon mehr Kohlendioxid in der Luft gehabt. Sie verkennen aber, dass es damals keine Menschen gab und unter diesen Bedingungen die heutige Biodiversität und die bereits rund acht Milliarden Menschen keine Chance hätten, sich schnell genug anzupassen. Frühere große Freisetzungen von Kohlendioxid – damals durch natürliche Ursachen – führten mehrmals in der Erdgeschichte zum Aussterben eines großen Teils der in jener Zeit lebenden Tier- und Pflanzenarten.

Demagogen behaupten immer wieder, wenn es an einem Ort, eine Zeit lang kalt ist oder schneit, „seht, die Klimaerwärmung gibt es nicht“. Doch manche Zusammenhänge sind auf den ersten Blick paradox: 

  • Eine globale Erwärmung führt teilweise lokal zu mehr Schnee.
  • Da periodische Schwankungen den langfristigen Trend überlagern, kann es kurzfristig kälter werden.
  • Der Zusammenhang zwischen dem Kohlendioxidausstoß und der Klimaerwärmung ist nicht linear. Es gibt Selbstverstärkungseffekte – etwa durch Wasserverdunstung, Wald- und Torfbrände, Schmelzen der Gletscher und Tauen der Permafrostböden. Und es gibt Kippeffekte, durch welche die Erwärmung selbst dann weitergeht, wenn der Kohlendioxidausstoß gebremst oder gestoppt wird.

Die Vorstellungen breiter Bevölkerungskreise und vieler Politiker über die Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und dem Klima stehen erschreckend in Widerspruch zu den physikalischen Realitäten: 

  • Die Wirkungen des Kohlendioxidausstoßes auf das Klima treten um Jahrzehnte verzögert ein. Die Klimaauffälligkeiten, die wir heute beobachten, sind überwiegend die Folge des Handelns im letzten Jahrhundert. Die Folgen des seither massiv weiter gestiegenen heutigen globalen Ausstoßes werden wir oder unsere Kinder erst in Zukunft in vollem Maße zu spüren bekommen. Hintergrund dieser Verzögerung ist, dass das Klima nicht direkt auf den Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen reagiert, sondern auf deren Konzentration in der Atmosphäre.
  • Wenn wir den Kohlendioxidausstoß erst dann massiv reduzieren, wenn die Klimaveränderung und deren Folgen bereits katastrophal sind, ist eine Entwicklung in Gang gekommen, die für Jahrtausende unumkehrbar ist und selbst dann weiterläuft, wenn zu jenem Zeitpunkt die Emissionen vollständig gestoppt werden.

Joseph Romm zeigt auf, was geschieht, wenn wir nicht schnell genug stark genug Gegensteuer geben. Die Erde wird großräumig lebensfeindlich und um die geschrumpften Lebensräume wird hart gekämpft.

Wir haben es in der Hand, wie stark der Kohlendioxidausstoß, die Erwärmung und die weiteren Folgen weitergehen, individuell und kollektiv. Sowohl über unser eigenes Alltagshandeln als auch über unser politisches Handeln nehmen wir Einfluss.

Die erforderliche Verminderung der Emissionen ist über einen veränderten Umgang mit Energie zu erreichen, weil der Kohlendioxidausstoß hauptsächlich von fossilen Energieträgern stammt. Die Hauptsäulen hierfür sind eine höhere Energieeffizienz vor allem durch bessere Gebäudeisolation und energiesparendere Verkehrsmittel sowie der Ersatz fossiler Energieträger durch nichtfossile.

Joseph Romm nennt die Mittel, um höhere Energieeffizienz und die Entkarbonisierung der Energienutzung im nötigen Umfang voranzutreiben:

  • Abgaben auf fossilen Energieträgern: In der Form von Lenkungsabgaben, welche der Allgemeinheit über Steuersenkungen zurückerstattet werden, sind diese sogar staatsquotenneutral.
  • handelbare Emissionsrechte: Der Staat muss hierbei das handelbare Emissionsvolumen festlegen.

Voraussetzung für die genügende Wirksamkeit dieser Mittel ist es, dass die Abgaben hoch genug sind und das Emissionsvolumen tief genug ist.

Wir haben heute nicht mehr die Wahl, eine vom Menschen gemachte Klimaerwärmung zu verhindern. Wir haben nur noch die Wahl, diese Klimaerwärmung auf einen Wert zu begrenzen, der nicht zu Folgen führt, welche unsere Kinder und Enkel überfordern wird. Diese Wahl haben wir!

Englische Originalausgabe

Joseph Romm: Climate Change. What everyone needs to know. Oxford.

Klimasprünge: Wieso Klimaerwärmung eine neue Eiszeit auslösen kann

Nicht alles, was für unser Leben essenziell ist, kann man so weit vereinfachen, dass es für populistische Politik verdaulich ist. William H. Calvin versucht Fakten rund um die Klimageschichte mit jener Ernsthaftigkeit zu erklären, die notwendig ist, wenn unsere und unserer Kinder Zukunft davon abhängt.

Die aktuelle Diskussion über Klimaveränderung bezieht sich fast ausschließlich auf die primär vom Menschen verursachte schleichende globale Erwärmung. Wenn man die Klimageschichte sehr weit zurückverfolgt, fällt auf, dass es immer wieder schnell ablaufende Veränderungen gegeben hat. Innerhalb weniger Jahre erfolgten eigentliche Klimasprünge.

Das Weltklimasystem wechselt zwischen mehreren über Jahrhunderte bis Jahrtausende stabilen Zuständen:

  • heiß-feucht mit einer bis in den höchsten Norden reichenden warmen oberflächlichen Süd-Nord-Meeresströmung und entsprechender Gegenströmung in der Tiefe
  • kühl-trocken mit einer weniger weit in den Norden reichenden warmen Süd-Nord-Meeresströmung und entsprechender Gegenströmung
  • ein Zustand, bei welchem die großen Süd-Nord-Süd-Meeresströmungen stark abgeschwächt sind oder fehlen (ein sogenanntes Heinrich-Ereignis)

Seit 8000 Jahren ist das Weltklimasystem im heiß-feuchten Zustand. Dies gilt trotz der im Mittelalter eingetretenen sogenannten kleinen Eiszeit. Die damit verbundene Abkühlung war viel schwächer als das, was beim Wechsel des Weltklimas vom heiß-feuchten in den kühl-trockenen Zustand zu erwarten ist.

Die bisherigen Klimasprünge – im Unterschied zur aktuell ablaufenden globalen Erwärmung – wurden nicht vom Menschen verursacht. Doch mit dem heutigen Ausmaß an menschlicher Einwirkung auf das Klima steigt das Risiko erheblich, dass der Mensch einen solchen Klimasprung auslöst, längst bevor ein solcher natürlicherweise eintreten würde. Die vom Menschen gemachte langsame Erwärmung kann über eine Veränderung von Meeresströmungen ein schnelles Kippen des Weltklimas auslösen.

Die Zusammenhänge des Weltklimasystems sind nicht linear. Es gilt nicht einfach ein je mehr, desto mehr. An verschiedenen Punkten verändert das System seine Eigenschaften. Es kippt, entweder ins Übermaß oder ins Gegenteil.

Einer dieser zu erwartenden Kippeffekte ist das Erliegen des Golfstroms. Das würde für Europa eine schnelle und massive Abkühlung bedeuten und das Risiko einer neuen Eiszeit.

Ohne Golfstrom hätte Europa bei global heiß-feuchtem Klima angesichts des Breitengrades ein Kanada vergleichbares Klima. Kanadas Landwirtschaft ernährt 28 Millionen Menschen, Europas Landwirtschaft über 650 Millionen. Kippt das Klima, gibt es in Europa innert weniger Jahre für den Großteil der Bevölkerung keine Lebensgrundlage mehr. Es ist nicht anzunehmen, dass wir 650 Millionen Europäer von heute auf morgen woanders auf diesem Planeten willkommen wären.

Die großen Meeresströmungen werden zum einen durch Winde und zum anderen durch das Absinken von Wasser mit hohem Salzgehalt angetrieben. Nimmt der Salzgehalt an bestimmten Stellen im Nordatlantik stark ab, schwächen sich diese Meeresströmungen ab oder kommen zum Erliegen. Dies ist möglich durch große Süßwassermengen abschmelzender Gletscher Grönlands oder durch große durch die Klimaerwärmung gesteigerte Regenwassermengen.

William H. Calvin macht auf das Risiko aufmerksam, dass die seit der landwirtschaftlichen Revolution von Millionen auf Milliarden angestiegene Weltbevölkerung weit über einem Stand liegt, der es dem Menschen erlauben würde, sich durch Wanderung genügend rasch an Klimasprünge anzupassen. Die Lebensgrundlagen einer verstädterten Welt sind äußerst labil. Heute ernähren zwei Prozent der Bevölkerung durch ihre landwirtschaftliche Tätigkeit dank einem stark ausgebauten Transport- und Handelssystem die übrigen 98 Prozent. Dieser Zustand ist in keiner Weise robust.

Calvin macht keine Prognose, ob es noch in diesem Jahrhundert zum Einbruch einer neuen Eiszeit kommt. Er unterscheidet vielmehr relevante Szenarien, deren Eintritt so dramatische Konsequenzen hätte, dass es dringend geboten und klug ist, Vorkehrungen zu treffen. Wenn wir es weiterhin verpassen, den Kohlendioxidausstoß massiv zu reduzieren, riskieren wir ein Szenario, bei dem die Mehrzahl unserer Nachkommen keine Chance hat.

Es sind Verantwortung und Vernunft angesagt in einer Zeit, in der die Politik sich außerstande zeigt, sich mit einer komplexen Wirklichkeit ernsthaft auseinanderzusetzen, von der die Zukunft des Menschen abhängt.

Englische Originalausgabe

William H. Calvin: A Brain for All Seasons. Human evolution and abrupt climate change. The University of Chicago Press.

„Rettet den Kapitalismus“ – Wie die Regeln der Marktwirtschaft korrumpiert worden sind und wie sich das ändern lässt

Robert Reich hat für drei verschiedene US-Regierungen gearbeitet, unter anderem als Arbeitsminister in der Regierung von Bill Clinton. Nach Robert Reich verfehlt die Debatte zwischen Links und Rechts, ob es mehr freie Marktwirtschaft oder mehr staatliche Eingriffe brauche, den Punkt. Ein „freier Markt“ basiert immer auf den Regeln, die der Staat etabliert. Er zeigt auf, wie diese Regeln im Lauf der Zeit verändert worden sind und von wem.

Es geht um Regeln, was man besitzen kann, wieviel Marktmacht einzelne Firmen maximal haben dürfen, was man zu welchen Bedingungen kaufen und verkaufen darf, was geschieht, wenn ein Marktteilnehmer nicht zahlen kann, und wie man sicherstellt, dass die Regeln eingehalten werden.

Wie Reich belegt, verdienen die Menschen in der sogenannten freien Marktwirtschaft nicht, was ihnen in einem moralischen Sinne gerechterweise zusteht, sondern was die im Rechtssystem verankerten Regeln zulassen. So haben manche aller Anstrengung zum Trotz keine Chance, durch ihre Arbeit auch nur das zu einer würdigen Existenz Notwendige zu erwirtschaften, die „Working Poor“. Andere wiederum können ohne Arbeit, allein durch die Erträge ihres Vermögens ein Einkommen erzielen, das ein Vielfaches des Durchschnittseinkommens beträgt, die „Non-Working Rich“. Dazwischen ist eine schrumpfende Mittelklasse mit stagnierenden oder sinkenden Einkommen.

Die heutigen von den Trägern der Macht durchgesetzten Regeln führen über die vermeintlich dem freien Markt innewohnenden Kräfte automatisch und systematisch zu einer gigantischen Wohlstandsumverteilung von unten nach oben. Was der Staat dann über Steuern und Unterstützungsleistungen von oben nach unten umverteilt, ist nur eine bescheidene Teilkompensation, die bei weitem nicht ausreicht zu verhindern, dass die Schere zwischen den Einkommens- und Vermögensschichten immer weiter aufgeht. Reichs  Analyse bezieht sich auf die Situation in den USA, gilt aber in vielem weltweit. Reich zeigt auf, wie sich die Situation ändern lässt, wenn die von dieser Situation benachteiligte Mehrheit sich zusammentut.

Deutsche Ausgabe

Robert Reich: Rettet den Kapitalismus! Für alle, nicht für 1 %. Campus.

Englische Originalausgabe

Robert Reich: Saving Capitalism. For the many, not the few. Icon.

  

intuitiv richtig – Psychologische Beratung

Dr. phil. Peter Flury-Kleubler, Psychologe FSP, Einzel- und Paarberatung, St. Gallen

 
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