Psychologe
St. Gallen

 

Menschenbilder

Die Bilder, die wir uns vom Menschen machen – von uns selbst und von anderen – bestimmen, was wir uns zutrauen. Auf dieser Seite gebe ich Ihnen Hinweise auf Bücher, die Ihr Bild vom Menschen wandeln können.

Passen wir zusammen?

Seit Jahrtausenden versuchen Menschen, sich selbst und andere einer überschaubaren Zahl von Typen zuzuordnen. Helen Fisher stellt in „Why Him? Why Her?“ eine Typologie vor, die in der Beschreibung der dazu gehörenden Charaktermerkmale manchen historischen Typologien ähnlich ist, sich aber in der Begründung unterscheidet. Sie ordnet jeden Persönlichkeitstyp einem Neurotransmitter zu. Die Eigenschaften des Entdeckers („explorer“ im englischen Original) schreibt Fisher dem Dopamin zu, jene des Gründers („builder“) dem Serotonin, diejenigen des Wegbereiters („director“) dem Testosteron und die Merkmale des Diplomaten („negotiator“) dem Östrogen.

Fisher betont, dass stets eine Mischung der vier Typen vorliegt. Wir alle haben Eigenschaften eines jeden in uns. Selbstverständlich kommt jeder der vier genannten Botenstoffe in unserem Gehirn vor. Mit einem im Buch enthaltenen Selbsttest können die Lesenden die eigene Typenmischung selbst ermitteln. Das Ergebnis ist in der Regel ein besonders ausgeprägter Grundtyp und ein ebenfalls deutlich ausgeprägter sekundärer Typ. Bei einzelnen Menschen ist auch ein dritter oder sogar vierter Typ ähnlich stark vorhanden.

Die von Fisher behauptete Typologie finde ich inspirierend und hilfreich, um ergiebige Fragen zu stellen. Sie basiert teilweise auf anerkannter neurowissenschaftlicher Forschung, teilweise ist sie weitgehend spekulativ.

Besonders spannend ist für mich die Diskussion, welche Typen in Paarbeziehungen zusammenpassen. Da wird klar, dass Passung je nach Konstellation ganz Unterschiedliches bedeuten kann. So sind die gemeinsamen Stärken von Paaren, aber auch die Schwierigkeiten höchst unterschiedlich.

Helen Fisher betont, dass die Unterschiedlichkeit von Menschen nicht nur auf individueller Lernerfahrung beruht, sondern von Anfang an auch auf biologisch angelegten Temperamentsunterschieden. Das zu berücksichtigen hilft, am richtigen Ort anzusetzen, wenn es um die Frage „Passen wir zusammen?“ geht.

Englische Originalausgabe

Helen Fisher: Why Him? Why Her? How to find and keep lasting love. Oneworld.

Deutsche Ausgabe

Helen Fisher: Warum es funkt – und wenn ja, bei wem. Wie die Persönlichkeit unsere Partnerwahl beeinflusst. Knaur.

Das Tagebuch der Menschheit

Noch nie habe ich durch die Lektüre eines aus einer atheistischen Perspektive geschriebenen Buches so viele Erkenntnisse über die Bibel gewonnen – und über den Menschen. Carel van Schaik und Kai Michel zeigen, dass die Texte der Bibel entstanden und im Laufe der Zeit vielfach umgeschrieben worden sind, um existenzielle Probleme des Menschseins zu lösen. Diese Probleme sind durch das entstanden, was der Evolutionsbiologe Jared Diamond als größten Fehler der Menschheit bezeichnet hat: die Erfindung der Landwirtschaft und die damit verbundene Sesshaftigheit. Landwirtschaft und Sesshaftigkeit haben zu einer dramatischen Zunahme der Bevölkerung und Bevölkerungsdichte geführt. Dies war die Ursache zahlloser mit Gewalt ausgetragener Konflikte und einer Vielzahl von Krankheiten.

van Schaik und Michel zeigen die Diskrepanz zwischen menschlicher Natur und erlernter Anpassung. Dabei unterscheiden sie drei Naturen: Die erste Natur sind unsere angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben. Die zweite Natur ist unsere kulturelle Natur. Sie wird nicht vererbt, sondern tradiert und erlernt. Die dritte Natur nennen die Autoren die Vernunftnatur. Sie umfasst jene kulturell verankerten Maximen, Praktiken und Institutionen, denen wir bewusst rational folgen.

Zwischen diesen drei Naturen bestehen Widersprüche. Manches, das unsere Vernunftnatur gebietet, widerstrebt unserer ersten Natur. Religion umfasst Elemente, die zur ersten Natur passen, solche, die zur zweiten passen und zur dritten. Wenn eine Religion diese vielfältigen Bedürfnisse aus diesen drei Naturen abdeckt, wird sie kulturell weitergegeben, teilweise während Jahrtausenden.

Der vor 12 000 Jahren erfolgte Übergang zur Sesshaftigkeit mit der dadurch in Gang gesetzten Bevölkerungszunahme hat Folgen, die hochaktuell sind: Dazu gehören die Klimakrise, die Krise der Ökosysteme und Pandemien.

Deutsche Ausgabe

Carel van Schaik und Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt.

4000 Wochen

Uns Menschen stehen im Mittel etwa 4000 Wochen Lebenszeit zur Verfügung. Das ist viel zu kurz, um all das zu tun, was wir gerne tun möchten. Die Lösung, mit der wir uns immer wieder versuchen und zu der uns eine Fülle von Zeitmanagement-Büchern raten ist mehr Effizienz. Wenn wir uns besser organisieren würden, könnten wir mehr erreichen.

Oliver Burkeman zeigt, dass der Glaube an Effizienz eine Falle ist. Die Effizienz immer noch weiter zu steigern führt in der Praxis dazu, dass wir immer mehr Irrelevantes tun. Wir vertrödeln unsere Zeit mit Nebensächlichem und Ablenkungen. Die modernen elektronischen Medien unterstützen uns dabei kräftig!

Burkeman sagt es klar: Der einzige Ausweg besteht darin, uns auf das zu beschränken, was uns wirklich wichtig ist. Das bedingt eine Lebenshaltung, aus der heraus wir uns auf das Leben einlassen – hier und jetzt. Auch wenn es gerade unangenehm ist. So wachsen wir persönlich.

Neben vielen lebensphilosophischen Überlegungen enthält das Buch ein paar geniale praktische Tipps, die für ein Zeitmanagement Sterblicher tatsächlich nützlich sind.

Deutsche Ausgabe

Oliver Burkeman: 4000 Wochen. Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement. Piper.

Englische Originalausgabe

Oliver Burkeman: Four Thousand Weeks. Time management for mortals. Vintage.

Das Macht-Paradox

Der Psychologe Dacher Keltner hat eingehend untersucht, was Macht ist, wie wir Macht erlangen und wie uns Macht wieder abhanden kommt. Macht, wie Keltner den Begriff definiert, ist unsere Fähigkeit, in der Welt einen Unterschied zu machen, indem wir den Zustand anderer Menschen beeinflussen können.

Die Vorstellung von Macht ist massiv geprägt worden von einem im Jahr 1513 verfassten Werk mit dem Titel Il Principe, in Deutsch Der Fürst. Der Autor heißt Niccolò Machiavelli. Nach ihm wird Macht durch Zwang erlangt, mittels Gewalt, Betrug und Rücksichtslosigkeit.

Keltner ist zum Schluss gekommen, in Tat und Wahrheit werde Macht Menschen von anderen verliehen, wenn diese in deren Wahrnehmung zum allgemeinen Wohl beitragen. Entsprechend werden nicht die Rücksichtslosen mächtig, sondern die Sozialen.

Doch die Sache hat einen gewichtigen Haken. Macht verändert die, welche sie erlangt haben. Macht korrumpiert. Macht beeinträchtigt die Fähigkeit zur Empathie, fördert die Selbstüberschätzung und macht egoistisch. Wenn Menschen ihre Macht missbrauchen, wird sie Ihnen wieder entzogen – falls die Strukturen dies zulassen!

Der Umgang mit den Verführungen der Macht bleibt eine Gratwanderung.

Deutsche Ausgabe

Dacher Keltner: Das Macht-Paradox. Wie wir Einfluss gewinnen oder verlieren. Campus.

Englische Originalausgabe

Dacher Keltner: The Power Paradox. How we gain and lose influence. Penguin.

Im Grunde gut

Rutger Bregman hinterfragt in seinem Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit unsere Grundannahmen über die Natur des Menschen. Ist der Mensch von Natur eines jeden Feind und nur dank der Zivilisation gezähmt, wie das Thomas Hobbes behauptete? Oder ist der Mensch von Natur aus gut, aber durch die Zivilisation verdorben worden, wie Jean-Jacques Rousseau überzeugt war?

Wenn wir die Frage im Rahmen der Evolution beantworten wollen, müssen wir unsere nächsten Verwandten im Tierreich anschauen: Schimpansen und die etwas kleineren Bonobos. Die beiden sind sich äußerlich ähnlich, unterscheiden sich aber deutlich in ihrem Sozialverhalten. Schimpansen zeigen einander gegenüber je nach Situation eine ausgeprägte Aggressivität. Schimpansengruppen führen sogar Krieg gegeneinander. Bonobos hingegen sind die Freundlichkeit selbst, spielen am liebsten den ganzen Tag und werden eigentlich nie erwachsen.

Vergleicht man Neandertaler mit Homo sapiens, zeigt sich beim Neandertaler ein größeres Schädelvolumen, was auf ein größeres Hirnvolumen deutet. Neandertaler waren vermutlich intelligenter als Homo Sapiens. Homo sapiens sind im physiognomischen Vergleich kindlicher.

Der Zoologe und Genetiker Dmitri Beljajew begann in Sowjetzeiten mit der Domestizierung von Silberfüchsen. Das Verhalten von Silberfüchsen ist ausgeprägt aggressiv. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Ludmila Trut prüfte mit dicken Handschuhen, wie die Füchse auf ihre ausgestreckte Hand reagierten. Wenn ein Fuchs zurückhaltend reagierte, wählte sie ihn zur Weiterzucht aus. Schon nach der vierten Generation wedelte der erste Fuchs mit dem Schwanz. Das Auswahlkriterium war Freundlichkeit. Von Generation zu Generation veränderte sich auch das Äußere der domestizierten Tiere. Sie wurden kindlicher.

Die Schädelstrukturen des modernen Menschen sind im Vergleich mit Menschen, die vor 200 000 Jahren gelebt haben, weicher, jugendlicher und femininer. Das Gehirn ist kleiner, Zähne und Kieferknochen sind kindlicher geworden. Wir sind, so Rutger Bregman, der Homo puppy, der Welpenmensch.

Während des größten Teils der Stammesgeschichte waren Menschen relativ friedlich. Kriege gab es nicht. Das änderte sich vor rund 10 000 Jahren mit dem Beginn der Sesshaftigkeit, der gekoppelt ist an den Beginn der Landwirtschaft. Mit der Sesshaftigkeit wurden Ansprüche an Grundbesitz erhoben und das Ansammeln von Eigentum begann. Damit verbunden waren neue Machtstrukturen.

Und dennoch: Bregman legt eine Vielzahl von Belegen vor, dass der Mensch trotzdem im Grunde gut geblieben ist. Er belegt dies am Beispiel berühmter sozialpsychologischer Untersuchungen oder auch mit Erfahrungen aus dem Strafvollzug, der in Norwegen von einem ganz anderen Menschenbild ausgeht als etwa in den USA. Und er berichtet vom Weihnachtsfrieden 1914, als Soldaten beider Seiten miteinander Weihnachtslieder sangen.

Deutsche Ausgabe

Rutger Bregman. Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt.

Das Netzwerk des Leugnens

Neun Jahre nach der Erstpublikation hat das Buch Merchants of Doubt (in deutscher Übersetzung Die Machiavellis der Wissenschaft) ein neues Vorwort bekommen – verfasst vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore. Leider ist das Buch seit der Erstausgabe noch relevanter geworden, wie die Autoren im Nachwort beklagen.

Die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes und der Historiker Erik M. Conway haben aufwändig erforscht, wie ein paar abtrünnige Wissenschaftler – Fred Singer, Fred Seitz, Robert Jastrow und William Nierenberg – seit den 1970er Jahren wider besseres Wissen den wissenschaftlich fundierten Konsens in verschiedenen gesellschaftlich wichtigen Fragen in Verruf zu bringen versuchten: vom Konsens über die gesundheitsgefährdende Wirkung des Rauchens, über die schädlichen Wirkungen sauren Regens und dessen Ursachen, über die Ursachen des Ozonlochs, die Gefahren des Passivrauchens bis zur Klimaerwärmung durch Kohlendioxid.

Sie inszenierten einen Dissens, versuchten den Eindruck zu erwecken, die Wissenschaft sei in der Frage gespalten.

Das Produkt dieser Abtrünnigen war Zweifel. Mit einer hohen destruktiven Energie betrieben diese ehemaligen Wissenschaftler politische und gesellschaftliche Manipulation im Dienste der Tabakindustrie, der Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten sowie der Erdöl- und Kohlelobby.

Auch wenn die genannten ehemaligen Wissenschaftler inzwischen tot sind, lebt deren Methode fort. Es wird alles in Frage gestellt, das den so genannten freien Markt und die individuelle Freiheit tangiert. Dabei wird außer Acht gelassen, dass jede Freiheit ihre Grenzen hat, insbesondere die Freiheit, andere zu töten, sei es direkt oder indirekt – jetzige und künftige Lebewesen.

Deutsche Ausgabe

Naomi Oreskes und Erik M. Conway: Die Machiavellis der Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens. Wiley-VCH.

Englische Originalausgabe

Naomi Oreskes and Erik M. Conway: Merchants of Doubt. How a handful of scientists obscured the truth on issues from tobacco smoke to climate change. Bloomsbury.

Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind

Was hat Gesundheit mit wirtschaftlicher Gleichheit zu tun? Der Wirtschaftswissenschaftler und Epidemiologe Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben weltweit öffentlich verfügbare Daten zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Situation vor dem Hintergrund dieser Frage analysiert. Die Fakten sind nicht wegzudiskutieren. Je geringer die Einkommens- und Vermögensunterschiede in einer Gesellschaft sind, desto besser geht es allen. Ja, allen – auch den Reichen. So ist im Durchschnitt beispielsweise die Lebenserwartung auch der Reichen höher in Ländern mit geringerer Ungleichheit.

Spannend ist auch, wie verschiedene Länder mit geringer Ungleichheit diese erreichen. Da sind auf der einen Seite die skandinavischen Länder, welche die vergleichsweise geringe wirtschaftliche Ungleichheit der Menschen mittels steuerlicher Umverteilung erreichen. Und da ist Japan auf der anderen Seite, wo die Einkommensunterschiede von Anfang an geringer sind, so dass es keiner steuerlichen Umverteilung bedarf, um große Unterscheide auszugleichen.

Zu den Ländern mit hoher Ungleichheit gehören die englischsprachigen Länder, allen voran die USA, aber auch das Vereinigte Königreich. Länder mit großer Ungleichheit wie die USA fallen auf durch eine hohe Bevölkerungsquote, die im Gefängnis lebt, wenig Vertrauen in die Mitmenschen, viel Angst, einen hohen Drogenkonsum, eine hohe Zahl an Schwangerschaften von Teenagern, eine hohe Zahl von Übergewichtigen und eine geringere Lebenserwartung.

Die ganzen Versuche, mit viel Aufwand soziale Probleme zu lösen mit Beratungsangeboten, Therapien und Sozialprogrammen, erweisen sich als weit weniger wirksam als die Verminderung von Einkommens- und Vermögensunterschieden. Die wirtschaftliche Ungleichheit nimmt seit Jahrzehnten zu, seit sich der Neoliberalismus durchgesetzt hat. Einem Prozent der Menschheit gehören 45 Prozent des globalen Vermögens (Quelle: Oxfam). Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Geringere wirtschaftliche Unterschiede liegen im Interesse der ganzen Menschheit. Es ist das Verdienst von Wilkinson und Pickett, dies wissenschaftlich zu untermauern und kundzutun.

Deutsche Ausgabe

Richard Wilkinson und Kate Pickett: Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Haffmans & Tolkemitt.

Englische Originalausgabe

Richard Wilkinson and Kate Pickett: The Spirit Level. Why equality is better for everyone. Penguin.

Sex und Lügen

Zwischen dem, was Gesetze und Gesellschaft vorschreiben, und dem tatsächlichen Leben klafft ein Graben. Leïla Slimani beschreibt anhand der Aussagen vieler Frauen, wie in Marokko ein der menschlichen Natur entsprechender Umgang mit dem Körper nur in der Illegalität möglich ist. Das unschuldige Zusammensein von Frauen und Männern ist ohne Heirat verboten und strafbar – bereits das bloße Teilen von Raum, dann die Berührung, Umarmung, das Küssen und erst recht erst die sexuelle Vereinigung.

Das bedeutet keineswegs, dass es nicht gelebt wird. Es erfolgt heimlich. Und wenn Polizisten Zeugen werden, verzichten sie auf Strafverfolgung, wenn sie dafür bezahlt werden.

Leïla Slimani beschreibt auch, in welcher Unwissenheit die Menschen in Marokko in Bezug auf ihren Körper aufwachsen und in welche Nöte sie diese Unwissenheit bringt.

Wir Menschen im Westen denken dabei vielleicht allzu leicht, dies sei Thema einer anderen Welt und habe mit dem Islam zu tun. Ich habe den Eindruck, diese Doppelbödigkeit ist auch in unserer Gesellschaft in erheblichem Maße da. Von einem entkrampften, lustvollen und freien Umgang der Geschlechter und mit dem eigenen Körper sind wir weiter entfernt als so manche Kultur vor uns – und als unsere eigene Kultur vor 50 Jahren!

Deutsche Ausgabe

Leïla Slimani: Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt. btb.

Französische Originalausgabe

Leïla Slimani: Sexe et mensonges. La vie sexuelle au Maroc. Les Arèrenes.

Die Entschlüsselung des Alterns: Der Telomer-Effekt

Im Buch von Elizabeth Blackburn und Elissa Epel geht es um den Zusammenhang zwischen der Länge der Telomere, also der Enden unserer Chromosomen, und dem Alterungsprozess unseres Körpers. Die Telomere sind wie die Enden eines Schnürsenkels, welche diesen vor dem Ausfransen schützen. Solange die Telomere lang genug sind, schützen sie jenen Teil der Chromosomen, der die Erbinformation enthält. So können sich die Zellen teilen und unseren Körper erneuern. Sind sie zu kurz, hört die Teilungsfähigkeit auf. Dann sind wir körperlich alt.

Die Autorinnen zeigen systematisch auf, über welche inneren und äußeren Faktoren wir Einfluss nehmen können auf die Länge der Telomere und damit auf die Fähigkeit unseres Körpers, psychisch und physisch jung und gesund zu bleiben. Indem die Autorinnen – die Nobelpreisträgerin und Molekularbiologin Elizabeth Blackburn und die Psychologin Elissa Epel – einen weiten Bogen spannen von psychologischen Faktoren der Stressregulation, Lebensgewohnheiten, Umwelteinflüssen bis zur Ungleichverteilung der Einkommen, geben sie uns Lesenden eine Vielzahl von Ansatzpunkten in die Hand, die Geschwindigkeit unseres Alterns zu beeinflussen – und damit die Lebensqualität und die Dauer jenes Anteils unseres Lebens, in dem wir uns gesund fühlen.

Das Buch ist eine praktische Anleitung zum eigenen Glück.

Kurzum: Das Buch über den Telomer-Effekt ist ein wichtiges Buch.

Deutsche Ausgabe

Elizabeth Blackburn und Elissa Epel: Die Entschlüsselung des Alterns. Der Telomer-Effekt. Mosaik.

Englische Originalausgabe

Elizabeth Blackburn und Elissa Epel: The Telomere Effect. A Revolutionary Approach to Living Younger, Healthier, Longer. Orion Spring.

Vom Himmel auf Erden

Das Buch fängt schon stark an: Sex ist die intimste Form der Kommunikation, die uns Menschen zur Verfügung steht. ... Wir möchten spüren, dass uns der andere in sich lässt, uns in sich aufnimmt oder er in uns dringen will; dass er uns in sich haben oder in uns sein will.

Der Sexualwissenschaftler Christoph Joseph Ahlers erläutert auf vielfältige Weise die fundamentale Bedeutung von Sexualität als Teil menschlicher Beziehungsrealität, als Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit. So spannt er den Bogen vom Intimsten bis zu den Werten der Leistungsgesellschaft. Das Buch ist tiefgründig, scharfsinnig, provokativ und von einer Spur schwarzen Humors geprägt.

Ahlers betont immer wieder die Bedeutung von biologischen, psychologischen und sozialen Einflüssen. Jeder dieser Faktoren kann immer nur einen Teil des Geschehens erklären.

Wenn jeder Mann und jede Frau dieses Buch gelesen hätte, würden die Verkaufszahlen von Viagra und die Zahl der Operationen im Bereich der Intimchirurgie massiv zurückgehen.

Deutsche Originalausgabe

Christoph Joseph Ahlers: Vom Himmel auf Erden. Was Sexualität für uns bedeutet. Goldmann.

Die Geschichte des menschlichen Körpers

Woran sind Menschen angepasst? Welche Umwelt und welche Lebensweise entspricht unserer Natur am besten? Der Evolutionsbiologe Daniel Lieberman sucht Antworten auf diese Fragen, indem er zurückblickt auf die Menschwerdung während der letzten neun Millionen Jahre.

Und er blickt auf unsere aktuelle Lebensweise und unsere aktuelle Gesundheitssituation. Dabei stellt er fest, dass wir an einer Reihe von Fehlanpassungs-Krankheiten leiden. Wir setzen uns Lebensbedingungen aus, an die wir genetisch schlecht angepasst sind.

Es stellt sich die Frage, wie die Diskrepanz zwischen unserer Lebenssituation und unserer Natur verkleinert werden kann. Soll der Mensch an das moderne Leben angepasst werden? Oder wollen wir unsere Lebensweise und Lebensbedingungen so verändern, dass sie unserer im Laufe von Jahrmillionen entstandenen genetisch weitergegebenen Natur besser entspricht? Der zweite Weg ist um einiges realistischer als der erste. Und ich persönlich meine, er sei auch um einiges menschenwürdiger.

Englische Originalausgabe

Daniel Lieberman: The Story of the Human Body. Evolution, health and disease. Penguin.

Die erste Bindung

Unter Berücksichtigung neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse stellt Nicole Strüber dar, wie Eltern die Entwicklung ihrer Kinder prägen. Dabei zeigt sie ausführlich die Wechselwirkungen zwischen Eltern und Kindern. Ein Kind ist von Anfang an – bereits während der Schwangerschaft – kein unbeschriebenes Blatt. Es bringt seine genetischen Besonderheiten mit. Dadurch reagiert es individuell auf die Einflüsse aus der Umwelt, die ja zunächst aus dem Mutterleib besteht, in dem es lebt.

In welchem Maße die Gene wirken können, wird durch epigenetische Faktoren beeinflusst. Diese reichen teilweise in eine Zeit vor der Zeugung zurück. Ein Leben lang beeinflusst die Umwelt, welche Ausschnitte welcher Gene die Zellen für den Aufbau von Proteinen verwenden können.

Mehrfach nimmt Strüber Bezug auf die vom Psychologen Jay Belsky formulierte Hypothese der differentiellen Beeinflussbarkeit. Danach können, je nach Kind, Umwelteinflüsse unterschiedlich viel ausrichten. Es gibt Kinder, die manchen Umwelteinflüssen gegenüber in hohem Maße unempfindlich sind. Und es gibt andere, die sehr viel stärker auf diese reagieren. Die letzteren sind einerseits verletzlicher. Andererseits reagieren sie oft positiver auf günstige Umwelteinflüsse als die unempfindlicheren Kinder.

Eine zentrale Botschaft von Strübers Buch betrifft den Zeitpunkt eines Umwelteinflusses. In der menschlichen Entwicklung gibt es Perioden, in denen bestimmte Persönlichkeitseigenschaften besonders stark durch Umwelteinflüsse beeinflussbar sind. So ist das emotionale Band insbesondere zwischen Mutter und Kind in manchen frühkindlichen Phasen von lebenslang prägender Bedeutung.

Und dennoch ist es in einem gewissen, beschränkten Ausmaß möglich, später nachzuholen, was damals gefehlt hat. Ebenso können spätere schwere Belastungen beschädigen, was einmal da war.

In beiden Fällen ist es mit psychologischer Arbeit ein Stück weit möglich, der Zukunft trotz der Vergangenheit eine neue Richtung zu geben.

Ein Nachtrag: Eltern und Kinder beeinflussen einander gegenseitig. Die Geburt eines Kindes verändert den Hormonhaushalt der Mutter erheblich. So erhöht sich der Oxytocin-Spiegel. Oxytocin fördert die Fähigkeit der Mutter, sich um das Kind zu kümmern. Auch beim Vater wird mehr Oxytocin im Körper freigesetzt. Und so wird auch er motiviert und befähigt, sich in das Kind einzufühlen und sich um es zu kümmern. Dieser Oxytocin-Anstieg erfolgt zusammen mit einem Testosteron-Rückgang. Männer, die in einer Paarbeziehung mit einer Frau leben, weisen einen tieferen Testosteron-Spiegel auf als zuvor als Single. Nach der Geburt eines Kindes fällt der Testosteron-Spiegel noch weiter ab. Männer werden somit im Durchschnitt in Paarbeziehungen weiblicher. Werden sie Väter, verstärkt sich diese Tendenz.

Und noch ein Nachtrag: Nicole Strüber schließt ihr Buch mit einer gesellschaftspolitischen Fragestellung ab. Sie beleuchtet, ob der Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung im Interesse der Kinder ist. Sie weist auf Forschungsergebnisse hin: Für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien kann die frühe Krippenunterbringung tatsächlich von Vorteil sein. Doch für all jene Kinder von Müttern und Vätern, die in der Lage sind, zu ihren Kindern sichere und nährende Bindungsbeziehungen aufzubauen, bedeutet der frühe Gang in die Krippe zusätzlichen Stress. Der erhöhte Spiegel des Stresshormons Cortisol im Blut der Kinder spricht eine klare Sprache. Nicole Strüber als Mutter von Zwillingen bezweifelt, dass das Ziel Krippe für alle dem Bedürfnis der Kinder entspricht. Sie plädiert dafür, der Fürsorge im Vergleich mit der Erwerbsarbeit wieder eine höhere Wertschätzung zu geben.

Wenn Eltern tatsächlich die Wahlfreiheit haben sollen, wie sie ihre Kinder betreuen möchten, braucht es nicht einfach eine immense Zahl von Erzieherinnen und Erziehern für Betreuungsplätze hoher Qualität (was eine Betreuungsperson pro zwei bis drei Kinder bedeutet). Es braucht sowohl eine bedarfsgerechte Anzahl qualitativ hochstehender Krippenplätze als auch Strukturen, welche Müttern, die dies wollen, nach einer mehrjährigen Zeit der Sorge für die Kinder wieder Zugang zu attraktiver Erwerbsarbeit ermöglichen. Und es braucht Strukturen, welche es Vätern erlauben, sich wesentlich an der Kinderbetreuung zu beteiligen, ohne dadurch massive wirtschaftliche Nachteile zu erleiden.

Deutsche Originalausgabe

Nicole Strüber: Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta.

Wie das Gehirn die Seele macht

Gerhard Roth und Nicole Strüber geben aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven einen Überblick über die neuronalen Grundlagen unseres emotionalen Erlebens und unseres Temperaments. Sie zeigen, welche Botenstoffe und Modulatoren wo im Gehirn freigesetzt werden sowie an welchen Wirkungen und Funktionen sie beteiligt sind. Die Autoren zeigen auch, welche Grundsysteme im Gehirn mit diesen Stoffen arbeiten und deren Bedeutung für die Psyche. Der Überblick deckt die wichtigsten Funktionen ab. Nicht näher behandelt werden die für die sexuelle Motivation, den zirkadianen Rhythmus oder homöostatische Funktionen erforderlichen Systeme. Dennoch ist das Bild, das Roth und Strüber geben, geeignet, das Verständnis zentraler psychischer Phänomene von Angst über Depression bis zu antisozialem Verhalten weiterzuentwickeln.

Unterschieden werden im Buch folgende psychoneuronalen Grundsysteme:

  • das Stressverarbeitungssystem (beteiligte Stoffe: Cortocotropin-freisetzender Faktor, adenocorticotropes Hormon, Cortisol)
  • das Beruhigungssystem (wird durch Cortisol aktiviert, setzt Serotonin und Oxytocin frei; hat eine zentrale Bedeutung beim Schutz vor Depression)
  • das Bewertungs- und Belohnungssystem (Endogene Opioide sind für die Lusterfahrung verantwortlich, Dopamin für die Belohnungserwartung.)
  • das Impulshemmungssystem (hemmt die Amygdala; involviert sind Cortexbereiche, die funktional zur oberen limbischen Ebene gehören)
  • das Bindungssystem (beteiligte Stoffe: Oxytocin und Vasopressin; Vasopressin motiviert zum Schutz des Kindes vor Gefahren)
  • das System des Realitätssinns und der Risikobewertung (beteiligte Stoffe: Noradrenalin und Acetylcholin)

Diese psychoneuronalen Grundsysteme beeinflussen einander auf vielfältige Weise. Dazu kommt, dass die Stärke der Reaktion auf einen Botenstoff oder Modulator mehrfach von Lebenserfahrungen und genetischen Einflüssen abhängt. Das Modell macht deutlich, wie komplex unsere Psyche ist und es entsprechend keine einfachen Patentrezepte gibt, die für alle gelten. Wir sind Individuen, jede und jeder Einzelne.

Ich habe Jahrzehnte auf ein solches Buch gewartet und bin den Autoren für die Synthese zutiefst dankbar.

Deutsche Originalausgabe

Gerhard Roth und Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta.

Wo Untreue anfängt

In Die Macht der Affäre schreibt die Psychotherapeutin Esther Perel über die Untreue. Beim Lesen wird rasch klar, dass es gar nicht so klar ist, wo Untreue anfängt. So vieles, worüber wir am Anfang des Buchs feste Überzeugungen haben, gerät beim Lesen ins Wanken. Esther Perel regt Paare dazu an, über die Fragen, die sich rund um das Thema Untreue stellen, miteinander ins Gespräch zu kommen – womöglich schon bevor eine Affäre da ist.

Und spätestens, wenn es so weit ist. Denn wohin eine Affäre führt, kann grundverschieden sein. Für einen Teil der Paare ist es das Ende. Bei jenen Paaren, die dennoch zusammenbleiben, gibt es drei Gruppen: die Leidenden, bei denen der eine die Affäre dem anderen bis ans Ende vorwirft; die Baumeister, welche wieder einen Weg finden, miteinander weiterzuleben; die Forscher, welche sich miteinander als Paar neu erfinden. Zu welchen möchten Sie gehören?

Deutsche Ausgabe

Esther Perel: Die Macht der Affäre. Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können. HarperCollins.

Englische Originalausgabe

Esther Perel: The State Of Affairs. Rethinking Infidelity. Yellow Kite.

Flow und Glücksgefühle

Was einem zustößt, hat nicht allein die Macht darüber, wie man sich fühlt und wie es im Leben weiter geht. Manche Menschen geraten nach schwierigen Lebensumständen in einen Abwärtsstrudel negativer Erwartungen, die sich fortlaufend bestätigen. Andere Menschen, denen Vergleichbares widerfahren ist, sehen in jeder Situation das Positive und sie setzen ihr Leben dafür ein, dass es besser wird, für alle.

Mihaly Csikszentmihalyi ist überzeugt, dass es nicht in erster Linie von äußeren Faktoren abhängt, wie wohl uns ist. Glück ist zu einem wesentlichen Teil eine Frage der Kontrolle über das eigene Erleben.

Er nennt den Hauptgrund, wieso es so schwierig sei, Glück zu erreichen – entgegen den Mythen, welche die Menschheit sich erzählt: Das Universum ist nicht geschaffen worden, um unsere Bedürfnisse zu stillen.

Für Csikszentmihalyi hat sich die Psychologie bisher hauptsächlich darauf konzentriert, wie vergangene Geschehnisse Licht auf gegenwärtiges Verhalten werfen. Sie hat uns dafür sensibilisiert, dass erwachsene Irrationalität oft das Ergebnis von Frustration in der Kindheit ist. Doch es gibt eine andere Möglichkeit, die Psychologie zu nutzen. Sie kann uns helfen die Frage zu beantworten: Wenn wir sind, wer wir sind, mit allen Blockierungen und Hemmungen, was können wir tun, um die Zukunft zu verbessern?

Zentral ist für Csikszentmihalyi, ein übergeordnetes Lebensziel zu haben. Das schafft innere Ordnung und ermöglicht Glück.

Deutsche Ausgabe

Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks. Klett Cotta.

Englische Originalausgabe

Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. The psychology of optimal experience. Harper Perennial.

Die Medizin der Emotionen

Emotionen sind erlebte Bedeutung. Emotionen lassen uns spüren, was der aktuelle Zustand unseres Körpers für unser Leben im Kern bedeutet.

Das Erleben von Stress, Angstzuständen bis zur Depression ist Ausdruck davon, dass unser Körper in einen für das Leben auf Dauer bedrohlichen Zustand gefallen ist. Grundsätzlich verfügt unser Körper über die Fähigkeit, selbst wieder in einen für das Leben günstigen Zustand zurückzufinden.

Die Medizin hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark auf den Einsatz von Medikamenten ausgerichtet – von Antibiotika bis zu Psychopharmaka – und dabei die Selbstheilung des Körpers aus den Augen verloren.

David Servan-Schreiber betont die Möglichkeiten, diese Selbstheilung anzustoßen. Er beschreibt ein ganzes Repertoire an Werkzeugen von der Unterstützung der Kohärenz zwischen Herz und Verstand (vgl. auch Herzratenvariabilität), über EMDR als Traumatherapie, die Regelung der inneren Uhr, Akupunktur, omega-3-reiche Ernährung, Bewegung bis zu gewaltfreier Kommunikation.

Er zeigt, dass all diese Werkzeuge klinisch mindestens so wirksam sind wie Psychopharmaka, jedoch ohne deren Nebenwirkungen.

Deutsche Ausgabe

David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen. Stress, Angst, Depression – Gesund werden ohne Medikamente. Goldmann.

Französische Originalausgabe

David Servan-Schreiber: Guérir le stress, l'anxiété et la dépression sans médicaments ni psychanalyse. Laffont.

Achtsamkeit

Das Achtsamkeitstraining von Mark Williams und Danny Penman ist mir empfohlen worden zu einem Zeitpunkt, zu dem ich nach einem Unfall das Vertrauen in meinen Körper verloren hatte. Mich zu entspannen, tief zu atmen, hatte eine paradoxe Wirkung auf mich. Statt mich zu beruhigen brachte es mich an einen Punkt, an dem ich es kaum aushielt und den dringenden Impuls verspürte, aufzustehen und davonzulaufen.

Ich kaufte das Buch trotzdem und begann, die Übungen auszuprobieren. Von der ersten Übung an spürte ich, dass sie mir gut taten. Ich blieb dran, Tag für Tag, Woche für Woche. Ich merkte, wie sich etwas veränderte und ich in Situationen ruhig bleiben konnte, die mich zuvor in die Enge trieben.

Ich blieb weiterhin dran. Im Kapitel über die 8. und letzte Woche des 8-Wochen-Programms stand: Woche 8 ist der Rest Ihres Lebens. Das Buch regt nicht einfach an, 8 Wochen lang etwas Neues auszuprobieren und dann weiterzumachen wie gewohnt. Das Buch regt an, den Rest des Lebens anders unterwegs zu sein als bisher.

Deutsche Ausgabe

Mark Williams und Danny Penman: Das Achtsamkeitstraining. 20 Minuten täglich, die Ihr Leben verändern. Goldmann.

Englische Originalausgabe

Mark Williams and Danny Penman: Mindfulness. A practical guide to finding peace in a frantic world. Piatkus.

Geh an die Orte, die du fürchtest

Manche schwierige Erfahrungen lassen uns ein Leben lang bestimmte Situationen vermeiden. Geraten wir wider Willen doch hinein, reagieren wir heftig und ohne uns bewusst zu entscheiden.

„Gewöhnlich werden wir einfach von der Schwungkraft unserer Gewohnheiten überrannt und denken nicht daran, unsere Muster auch nur im geringsten zu verändern.“ schreibt Pema Chödrön.

Im Nachhinein bereuen wir vielleicht unsere Reaktion, was uns nicht davor bewahrt, ein nächstes Mal nach demselben Grundmuster zu reagieren. Wir entwickeln Abneigungen vor bestimmten Situationen, Verhaltensweisen und Menschen, begleitet von Ärger und Hass. Wir beginnen, uns nach einem Ort zu sehnen, an dem es anders ist.

Pema Chödrön: „Es liegt an uns. Wir können unser Leben damit verbringen, Abneigungen und Sehnsüchte zu pflegen, oder wir können den Pfad des Kriegers erkunden – Offenheit des Geistes und Mut nähren.“

Pema Chödrön zeigt auf der Basis des aus buddhistischen Lehren entstandenen Bodhichitta, wie wir erkennen können, nach welchen destruktiven Mustern wir reagieren, und wie wir lernen können, auf andere Weise zu reagieren. Sie lehrt uns, an Orte zu gehen, die wir fürchten, und dabei präsent zu bleiben.

Deutsche Ausgabe

Pema Chödrön: Geh an die Orte, die du fürchtest. Arbor.

Homo Deus

Yuval Noah Harari schildert, wie in der Moderne die Bezugnahme auf einen göttlichen Willen ersetzt worden ist durch den Bezug auf das subjektive Erleben des einzelnen Menschen. Nach der Ethik des Humanismus ist gut, was Menschen Lust verschafft, schlecht, was sie leiden lässt. Die Religion des Humanismus, wie Harari es ausdrückt, stützt Ethik auf das Erleben von Individuen ab.

Doch zählt das Erleben jedes Individuums gleich viel? Ist das Glücksgefühl eines Musikprofessors in Wien, während er sich Beethovens 5. Sinfonie anhört, anders zu werten als das Glücksgefühl eines Machos, der mit seinem Sportwagen von San Francisco nach LA donnert und dabei „Go! Go, Johnny, go!“ von Chuck Berry hört, oder das Glücksgefühl eines Pygmäen im kongolesischen Regenwald, der dem Initiationslied eines Mädchenchors zuhört, der „Ye oh, oh. Ye oh, eh“ singt, oder gar das Glücksgefühl eines Wolfs auf einer Bergspitze in den kanadischen Rockies, der eine Wölfin „Awoooooo! Awoooooo!“ heulen hört. Wenn die Schallwellen das Trommelfell des Musikprofessors, des Machos, des Pygmäen und jenes des Wolf erreichen, laufen Signale dem Hörnerv entlang ins Gehirn und die Nebenniere flutet den Blutstrom mit Adrenalin. 

Harari weist auch darauf hin, dass der Humanismus, wie jede Religion, gespalten ist in verschiedene Strömungen, vom Liberalismus, über den Sozialismus bis zum evolutionären Humanismus, der davon ausgeht, dass es Leben gibt, das mehr wert ist als anderes, wie es in verschiedenen Formen kennzeichnend ist für Nationalismus unterschiedlicher Radikalität.

Der Schritt in die Moderne war damit verbunden, dass Menschen bereit waren, auf Sinn zu verzichten, und dafür Macht bekamen. Wissenschaft hat dem modernen Menschen die Macht verliehen, Krankheiten und Hunger zu besiegen. Dafür hat der moderne Mensch darauf verzichtet, an einen großen kosmischen Plan zu glauben, an göttlichen Willen, an Vorsehung.

Wie Harari betont, kann Wissenschaft dem Menschen Werkzeuge geben, etwas zu erreichen. Wissenschaft kann nicht sagen, ob etwas richtig ist oder falsch. Wissenschaft kann nicht begründen, wieso es falsch ist, jemanden zu töten. Wissenschaft verleiht dem Menschen Macht, aber keine Ordnung. Gesellschaftliche Ordnung ist angewiesen auf Sinn und Bedeutung. Nur Religionen stiften Sinn.

Deutsche Ausgabe

Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. C.H.Beck.

Englische Ausgabe

Yuval Noah Harari: Homo Deus. A brief history of tomorrow. Harvill Secker.

Vergessen als Chance?

In seinem jüngsten Buch „Trauma und Gedächtnis“ geht Peter A. Levine der Frage nach, ob es wünschenswert wäre, schwierige Erfahrungen zu vergessen. Relativ jung ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Gedächtnisinhalte sich verändern können, während sie abgerufen werden. Wenn man in diesem Moment mit bestimmten Stoffen im Gehirn eingreift, lassen sich Erinnerungen löschen. Deshalb ist auch das Interesse der Pharmaindustrie an einer Pille des Vergessens erwacht.

Peter A. Levine mahnt jedoch, schwierige Erinnerungen zu löschen sei mit erheblichen Risiken verbunden. Und er zitiert George Santayana:

„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

So plädiert Peter A. Levine dafür, schwierige Erinnerungen „neu zu verhandeln“. Es geht darum, die Erinnerung an das, was ursprünglich überwältigend war, zu ergänzen um die Erfahrung, die Situation gemeistert zu haben. So wird auch für den Körper fassbar, dass das Gewesene vorbei ist.

Deutsche Ausgabe
Peter A. Levine: Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn. Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten. Kösel.

Englische Originalausgabe
Peter A. Levine: Trauma and Memory. Brain and body in a search for the living past. A practical guide for understanding and working with traumatic memory. North Atlantic Books.

„Sprache ohne Worte“ – Der Körper ist stärker als der Verstand

Der menschliche Körper nimmt die ganze Zeit wahr, was um ihn herum und in seinem Inneren geschieht. Er interpretiert, ob ihm etwas gut tut oder schadet. Und er reagiert intuitiv, längst bevor unser Verstand eine bewusste Entscheidung getroffen hat.

Der Körper wird einerseits vom Gehirn gesteuert, zu dessen Aktivität wir nur zu einem kleinen Teil bewussten Zugang haben. Andererseits wird der Körper von Nervenzellen außerhalb des Gehirns gesteuert, von denen eine große Zahl im Bauch sitzen. Dieses Bauchhirn (enterisches Nervensystem) ist beim Menschen wesentlich umfangreicher als das Rückenmark. Die Mehrzahl der Nervenverbindungen zwischen Gehirn und Bauchraum führt vom Bauch zum Gehirn und nur ein kleiner Anteil in die andere Richtung. Entsprechend hat der Bauch einen wesentlich größeren Einfluss auf das Gehirn als umgekehrt. Der Volksmund würdigt diesen Umstand in vielen Redensarten, etwa in der Wendung, „aus dem Bauch heraus entscheiden“.

Der Körper reagiert auf jede Situation:

In Situationen, die sich sicher anfühlen, geht er in einen Zustand der kommunikativen Offenheit. Wir sind neugierig auf andere und haben den Impuls, mit ihnen in Kontakt zu treten.

In Situationen, die unklar und neu sind, geht er in einen Zustand des Sich-Orientierens. Er versucht zu erkennen, ob eine Situation uns gut tut oder nicht. Je nachdem, entspannt sich der Körper anschließend oder er geht in einen Zustand der Handlungsbereitschaft über.

In Situationen, die gefährlich sind, mobilisiert der Körper seine Kräfte, um entweder vor der Gefahr zurückzuweichen (Flucht) oder sie zu beseitigen (Kampf).

In Situationen, welche die Handlungsmöglichkeiten des Körpers überfordern, gerät der Körper in eine Lähmung. Er stellt sich tot und schaltet die Schmerzempfindung ab.

Jeder dieser Zustände kann je nach Situation sinnvoll sein. Wenn wir jedoch in der Lähmung oder in der Flucht- und Kampfbereitschaft verharren, wird dies zum Problem.

Peter A. Levine beschreibt in seinem Buch „Sprache ohne Worte“, wie der Körper nach einer Erfahrung der existenziellen Überforderung in der Lage ist, durch Zittern die Energie wieder loszuwerden. Wenn dies nicht geschieht, entsteht eine Traumatisierung, die ein Leben lang anhalten kann. Peter A. Levine zeigt aber auch, wie sich eine Traumatisierung selbst nach Jahrzehnten auflösen lässt, wenn man mit den Bewegungsimpulsen in Kontakt geht, mit denen der Körper auf die traumatisierende Situation reagieren wollte.

Das Buch motiviert, sich auf die Sprache des Körpers einzulassen, ihr zu lauschen und zu folgen.

Deutsche Ausgabe

Peter A. Levine: Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Kösel.

Englische Originalausgabe

Peter A. Levine: In an Unspoken Voice. How the Body Releases Trauma and Restores Goodness. North Atlantic Books.

„Neustart im Kopf“ – Ein Mutmacher

Sobald das Gehirn ausgewachsen sei, finde nur noch ein schleichender Abbau statt, behauptete die Hirnforschung bis vor kurzem. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist. Das Gehirn bleibt ein Leben lang plastisch und lernfähig.

Der Psychiater und Psychoanalytiker Norman Doidge zeigt in seinem Buch „Neustart im Kopf“ anhand vieler Fallbeispiele, wie sich das Gehirn umorganisieren kann, wenn es ein geeignetes Lernumfeld findet, selbst in hohem Alter.

Er erzählt vom älteren Professor, der nach einem Schlaganfall gelähmt war und nicht mehr sprechen konnte. Einer seiner Söhne nahm seinen nach vier Wochen Rehabilitation immer noch weitgehend hilflosen Vater bei sich zu Hause auf. Er begann, mit ihm auf dem Boden kriechend zu spielen wie mit einem kleinen Kind. Die Nachbarn waren entsetzt zu sehen, wie der Sohn den Professor im Garten herumkriechen ließ. Mit der Zeit begann sich dieser aufzurichten und konnte am Schluss wieder frei gehen. Er lernte wieder sprechen, kehrte sogar in den Hörsaal der Universität zurück und konnte Vorlesungen halten. Viele Jahre später nach dessen Tod zeigte sich bei der Autopsie, dass das vom Schlaganfall abgestorbene Gehirngewebe sich nicht regeneriert hatte. Offenbar waren es gesunde Teile des Gehirns, die sich so umorganisierten, dass sie Funktionen erlernten, welche vorher von den durch den Schlaganfall zerstörten Gebieten wahrgenommen wurden.

Das Buch macht Hoffnung. Es zeigt, wie unendlich groß die Plastizität des Gehirns ein Leben lang bleibt. Dies ist eine gute Botschaft, nicht nur im Fall von Krankheiten und Unfällen, sondern auch wenn es darum geht, sich mit einem gesunden Gehirn ein Leben lang Neues zuzutrauen. 

Deutsche Ausgabe

Norman Doidge: Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert. Campus.

Englische Originalausgabe

Norman Doidge: The Brain that Changes Itself. Stories of personal triumph from the frontiers of brain science. Penguin.

Woher die Emotionen kommen

Dass menschliches Handeln in hohem Maße nicht nur rational gesteuert ist, führen uns die Ergebnisse demokratischer Wahlen immer wieder vor Augen. Emotionen haben eine enorme Macht über uns, ob unser Verstand dies nun eingesteht oder nicht.

Jaak Panksepp hat ein Leben lang im Gehirn von Tieren und Menschen nach den Grundlagen des emotionalen Erlebens gesucht. In „The Archaeology of Mind“ stellt er die Synthese seines Lebenswerks vor.

Menschliche Emotionen bestehen aus Grundemotionen, die oft vermischt sind und von Gedanken überlagert. Die Grundemotionen basieren auf entwicklungsgeschichtlich alten Gehirnstrukturen, die bei allen Säugetieren ähnlich sind. So ist es auch plausibel anzunehmen, dass Tiere – nicht nur Säugetiere – Emotionen erleben. Tiere können Angenehmes erleben und sie können leiden. 

Jaak Panksepp hat zusammen mit Lucy Biven umfassend dargestellt, welche Emotionssysteme er im Gehirn identifiziert hat. Die Aktivität eines jeden dieser Systeme ist begleitet vom Erleben bestimmter Grundemotionen. Und jedes dieser Systeme stützt sich auf bestimmte Botenstoffe im Gehirn, auf spezifische Neurotransmitter.

Panksepp und Biven unterscheiden folgende Emotionssysteme:

  • das Erwartungs-System (seeking system)
  • das Wut-System (rage system)
  • das Angst-System (fear system)
  • das Lust-System (lust system)
  • das Fürsorge-System (care system)
  • das Panik-Kummer-System (panic/grief system)
  • das Spiel-System (play system)

 

Neben den auf diesen Systemen basierenden umweltbezogenen Emotionen sprechen die Autoren der Vollständigkeit halber auch die Existenz homöostasebezogener Emotionen wie Hunger und Durst an, die jedoch nicht im Zentrum ihres Interesses stehen.

Die Autoren stellen den Funktionszustand der obigen Emotionssysteme mit psychischen Funktionszuständen in Beziehung. So ist beispielsweise Depression gekennzeichnet von einer Unteraktivität des Erwartungssystems. Besonders erhellend ist die Unterscheidung von Angst und Panik. Während Angst durch die Gegenwart einer Gefahr entsteht, ist Panik die Folge von Trennungs- und Verlassenheitsgefühlen.

Panksepps Lebenswerk ist ein Schlüssel zum tieferen Verständnis menschlicher Emotionalität.

Englische Originalausgabe
Jaak Panksepp and Lucy Biven: The Archaeology of Mind. Neuroevolutionary origins of human emotions. Norton.

Was sollen Gefühle?

Wir beginnen allmählich und ausschnittweise zu verstehen, wie unser subjektives Erleben und das, was physiologisch in unserem Gehirn geschieht, miteinander zusammenhängen. Doch wieso hängt unser Leben davon ab, ob wir das, was in unserem Gehirn geschieht, subjektiv erleben?

Wir erleben ein Abbild eines Ausschnitts von Wirklichkeit außerhalb unseres Körpers (Umweltwahrnehmung). Und wir erleben einen Ausschnitt der Wirklichkeit unseres Körpers (Körperwahrnehmung). Doch wieso erleben wir nicht nur diese Abbilder, sondern auch Gefühle?

Damasio ergründet, wieso es notwendig ist, dass wir etwas fühlen. Und er zeigt, dass das zu Emotionen gehörende körperliche Geschehen dem erlebten Gefühl einen Schritt voraus ist.

Damasio bringt die menschliche Situation auf den Punkt: Alle Menschen sind so beschaffen, dass sie ihr Leben bewahren wollen und Wohlbefinden suchen. Ihr Glück hängt vom Gelingen dieses Unterfangens ab, von Selbstwirksamkeit. Wenn wir nichts fühlen würden, wäre uns unser Leben egal. Wir würden nicht mit all unserer Kraft darum kämpfen. Und ohne Fähigkeit zu fühlen, gäbe es keine Ethik.

Englische Originalausgabe

Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, sorrow and the feeling brain. Vintage.

Epigenetik: Was unsere Gene aus uns machen, liegt nicht nur in den Genen

Unser Verständnis der biologischen Grundlagen menschlichen Lebens verändert sich grundlegend und schnell. Die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Erbguts im Jahr 2003 führte zunächst zu einer großen Enttäuschung. Der Mensch hat nur rund 20 000 Gene, eine ähnliche Zahl wie eine Maus oder der Fadenwurm Caenorhabditis elegans.

Ein anderer Zweig der Biologie, die Epigenetik, zeigt nun aber, dass die Zusammenhänge zwischen Erbgut, Umwelteinflüssen und dem, wie wir sind, erheblich komplexer sind als erwartet. Zwar enthält jede Zelle unseres Körpers die gleichen Gene. Doch wenn in den Genen der Bauplan für den ganzen Körper enthalten ist, wie weiß eine Zelle, ob sie beispielsweise eine Nervenzelle oder eine Muskelzelle sein soll? Wieso haben wir am Augapfel keine Zähne? Welche Ausschnitte der genetischen Information in einer Zelle in einem bestimmten Moment von dieser Zelle überhaupt verwendet werden, hängt von etwas außerhalb des Ergbuts ab, von etwas Epigentischem. Und dieses epigenetische Geschehen ist Teil der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Körper, Psyche und Umwelt.

Nessa Carey erklärt diese Zusammenhänge anschaulich. Und trotz ihres großen didaktischen Geschicks und der Alltagsbezüge ihrer Erklärungen entsteht ein alles andere denn einfaches Bild. Die Wirklichkeit, die Carey schildert, ist wirklich kompliziert! Unsere biologische Grundlage ist so vielschichtig, dass es nach wie vor mehr gibt, was wir nicht wissen, als, was wir wissen. In mir weckt Careys Buch ein großes Staunen.

Englische Originalausgabe

Nessa Carey: The Epigenetics Revolution. How modern biology is rewriting our understanding of genetics, disease and inheritance. Icon.

Die Mensch-Bakterien-Symbiose

Im Laufe der Neuzeit haben wir immer stärker andere Organismen aus unserem Körper, unserer Nahrung und unserer Umwelt zu verbannen versucht. Hygiene und Keimfreiheit, putzen und sich waschen wurden bis ins Zwanghafte gesteigert. Die moderne Medizin sieht Bakterien noch immer überwiegend als Krankheitserreger und Feinde des menschlichen Körpers. Mit Antibiotika bekämpft sie diese. Parallel dazu nehmen Allergien, Autoimmunkrankheiten und Immunschwächekrankheiten zu.

Beim Versuch, den Menschen – sein vielfältiges und komplexes Funktionieren, seine Gesundheit und Krankheit – genetisch zu erklären wurde im Rahmen des Humangenomprojekts unter Beteiligung von weltweit über Tausend Wissenschaftlern das gesamte menschliche Erbgut entschlüsselt. Nun sind alle zum zur Spezies Mensch gehörenden Gene bekannt, was noch lange nicht heißt, dass deren Funktion verstanden wird. Zur großen Überraschung besteht das menschliche Ergbut nur aus gut 20 000 Genen, unwesentlich mehr als bei einer Maus! Hinzu kommt, dass nur ein Teil der im Erbgut steckenden Information ausgelesen wird und dass es von Umwelteinflüssen abhängt, welcher Teil ausgelesen wird. Nur Gene, die ausgelesen werden, zeigen Wirkung.

Doch ein Mensch besteht nicht nur aus seinen eigenen Zellen. Zusätzlich siedeln im menschlichen Darm rund 100 Billionen Mikroorganismen, unter denen bisher über 1000 Arten bestimmt wurden, von denen jede ihr eigenes Erbgut hat. Das Zusammenwirken des menschlichen Organismus mit den Bakterien, mit denen er in Symbiose lebt, schafft ein komplexes Gesamtsystem, das nur als Ganzes lebensfähig ist. So ist das Immunsystem eine gemeinsame Leistung von Zellen des menschlichen Körpers und im Menschen lebenden Bakterien. Unter Laborbedingungen keimfrei geborene Säugetiere sind in der normalen Umwelt dem Tod geweiht.

Die Gesamtheit an Mikroorganismen, die unseren Körper bewohnt, wiegt bei einem durchschnittlichen Erwachsenen ungefähr zwei Kilogramm. Diese wird heute als auch als Mikrobiom bezeichnet. Man kann sich ausmalen, welches Drama der Einsatz von Antibiotika für das Mikrobiom eines Menschen bedeutet.

Indem Anne Katharina Zschocke eindrücklich zeigt, dass wir Menschen in einer bisher ungeahnten Weise auf das Zusammenleben mit Billionen von Bakterien angewiesen sind, reformiert sie unser Selbstverständnis, unser Verständnis der Umwelt sowie unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

Deutsche Originalausgabe

Anne Katharina Zschocke: Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit. Neueste Erkenntnisse aus der Mikrobiom-Forschung. Knaur.

Sexuelle Paranoia

Dass eine engagierte Feministin einen Mann verteidigt, der von Frauen der unerwünschten sexuellen Annäherung bezichtigt wird, lässt aufhorchen. Laura Kipnis, Professorin an der Northwestern University in den USA, beschreibt, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sexualität gewandelt hat. Während Sexualität in den 1970er Jahren als Feld der Befreiung selbstbestimmter Frauen erlebt wurde, wird sie heute zunehmend als Gefahrenzone wahrgenommen, in der Frauen in sexueller Hinsicht keine eigenen Wünsche haben, nicht selbst handeln und schutzlos vergewaltigenden Männern ausgeliefert sind. Sie sagt zu ihren Studierenden: „Ihr tut mir so leid. Als ich zur Schule ging, sahen wir Sex als etwas, das Vergnügen bereitet. Eure Generation scheint darin vor allem etwas Riskantes zu sehen.“ (im Original S. 12: “Gosh, I feel sorry for you guys. When I was in school we thought about sex in terms of pleasure; your generation seems to think about it all in terms of risk.”)

Die sexuelle Paranoia, welche Laura Kipnis beschreibt, ist aufgrund der Besonderheiten des Rechtssystems an US-amerikanischen Hochschulen besonders ausgeprägt. Die Entwicklung hin zu einer Kultur, in welcher der Umgang der Geschlechter verkrampfter geworden ist, lässt sich jedoch auch in Europa beobachten.

Laura Kipnis stellt zudem eine Tendenz fest, Sexualpartner hinterher zu beschuldigen: „Zustimmung zu Sexualität kann nun nachträglich zurückgezogen werden (mit amtlicher Billigung), Jahre später, gestützt auf sich ändernde Gefühle, zurückbleibende Ambivalenz oder neue Umstände. Bitte beachten Sie, dass dies jedermann, der je Sex hatte, zu einem potenziellen Vergewaltiger macht.“ (im Original S. 91: “Sexual consent can now be retroactively withdrawn (with official sanction) years later, based on changing feelings or residual ambivalence, or new circumstances. Please note that this makes anyone who’s ever had sex a potential rapist.”)

Englische Originalausgabe

Laura Kipnis: Unwanted Advances. Sexual paranoia comes to campus. Harper.

 

intuitiv richtig – Psychologische Beratung

Dr. phil. Peter Flury-Kleubler, Psychologe FSP, Einzel- und Paarberatung, St. Gallen

 
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